Im Interview: Sven Mensen über die Herausforderungen in der Pflegebranche

Im Interview mit der Handelskammer spricht unser Geschäftsführer Sven Mensen über den Fachkräftemangel als Symptom der Krise und spricht dabei offen über seine Vision des "Return of social Invest". 

Wo liegen aktuell die größten Herausforderungen für die Branche und welche möglichen Lösungen sehen Sie?

 

Mensen: Sie erwarten sicherlich, dass ich den Fachkräftemangel anspreche und betone, wie wichtig es ist, neue Pflegekräfte zu gewinnen.Das greift jedoch zu kurz und ist lediglich ein Symptom unseres schwer angeschlagenen Systems. Stellen Sie sich unser System wie ein Auto mit einem Motorschaden vor – anstatt den Motor zu reparieren, versuchen wir neue Reifen aufzuziehen und den Lack zu polieren, in der Hoffnung, dass das Fahrzeug wieder fährt. Unser Ansatz muss tiefer gehen. Kleine Reformen, wie sie bisher angedacht sind, reichen nicht aus.Das Gute daran ist, dass es bereits viele Experten gibt, die zukunftsweisende Ansätze verfolgen. Leider erreichen diese Ideen oftmals nicht die Entscheidungsträger. Ein konkretes Beispiel zeigt, wo unser System krankt: Wir handeln stark nach den Vorgaben des Sozialgesetzbuches § 11, das ursprünglich für die Angehörigenpflege konzipiert wurde. Diesen Rahmen für die hochprofessionelle Fachpflege auf internationalem Niveau zu nutzen, ist schlicht ungeeignet. Solange wir versuchen, Fachpflege in einen Paragraphen zu zwängen, der für die Pflege durch Angehörige gedacht ist, werden wir keine nachhaltige Entwicklung des Berufs und der Versorgung unserer Patienten erreichen.Es geht hier nicht um oberflächliche Flickschusterei, sondern um ein tiefes Umdenken des gesamten Systems. Das Eckpunktepapier des IPAG e.V. bietet meiner Meinung nach solide und nachhaltige Lösungen, die dem Gesundheitssystem eine echte Perspektive geben könnten. Hier müssen wir ansetzen und weiterdenken, um wirklich zukunftsfähige Reformen zu schaffen. 

 

Wie wirkt sich die Pflegekrise auf Unternehmen aus?

 

Mensen: Auch hier müssen wir uns fragen: Wo liegt die Ursache? Das System behandelt oft nur Symptome. Ein Beispiel: Die Gehälter des Pflegepersonals werden erhöht – das ist gut, aber löst keine strukturellen Probleme. Als Unternehmen haben wir kaum Budget und damit keinen Spielraum, um echte Veränderungen umzusetzen. Viele UnternehmerInnen in der Pflege arbeiten mit Herzblut und haben innovative Ideen, stoßen jedoch oft an finanzielle Grenzen. Ich nenne ein Beispiel: Im Alltag setzen wir zunehmend ungelernte Kräfte ein, was den Beruf deprofessionalisieren kann. Dennoch tragen wir Verantwortung für diese Mitarbeitenden und unsere Kunden. Um sie richtig einzuarbeiten und zu integrieren, bräuchten wir Zeit und Mittel – etwa durch eine spezielle Position wie einen Praxisanleiter für Pflegehilfskräfte. Doch solche Stellen werden nicht refinanziert und bleiben daher unrealistisch. Diese strukturellen Engpässe wirken direkt auf die Pflegekrise: Fehlende Mittel zur Qualifizierung und Einarbeitung verschärfen den Fachkräftemangel und führen zu einer geringeren Versorgungsqualität. Unsere Unternehmen tragen die Last, ohne die nötige Unterstützung, um Veränderungen wirklich voranzutreiben. Damit bleibt der Mangel ungelöst – was letztlich die gesamte Branche destabilisiert und die Pflegekrise weiter verschärft.

 

Wie gehen Sie mit dem Pflegenotstand um und was sind Ihre Erfahrungen dazu?

 

Mensen: Ein zentraler Ansatz ist Aufklärungsarbeit, vor allem für junge Menschen. Vor fünf Jahren hatten wir eine Auszubildende – heute sind es fast 40. Unser Fokus liegt auf einer gerechten und praxisnahen Ausbildung, die dazu führt, dass viele Azubis nach ihrer Ausbildung bleiben. Wir leben einfache Prinzipien: Kommunikation auf Augenhöhe, Transparenz und Ehrlichkeit im täglichen Miteinander. Ein wichtiger Punkt ist die Unterstützung der Pflegedienstleitung, die oft als „eierlegende Wollmilchsau“ gefordert wird. Wir müssen hinterfragen, ob dieses klassische Modell noch zeitgemäß ist oder ob Verantwortung stärker im Team verteilt werden sollte – wie etwa im Buurtzorg-Modell in Holland, das allerdings durch Tarifstrukturen hier kaum umsetzbar ist. Unsere Erfahrung zeigt: Eine gut funktionierende Teamleitung sorgt für zufriedene Teams – und das ist entscheidend für den Umgang mit dem Pflegenotstand.

 

Wie kann dem Mangel an Fachkräften effektiver begegnet werden, z.B. durch eine veränderte Ausbildung?

 

Mensen: Die Antwort ergibt sich aus den vorher genannten Ansätzen: Eine Ausbildung mit Fokus auf Praxisnähe, individuelle Förderung und gerechte Bedingungen ist entscheidend. Zudem müssen Strukturen hinterfragt und angepasst werden – zum Beispiel durch die Verteilung von Verantwortung im Team statt überlastete Einzelfunktionen. Innovative Konzepte wie das Buurtzorg-Modell zeigen, wie es anders gehen könnte, wenn finanzielle und strukturelle Rahmenbedingungen dies ermöglichen. Der Schlüssel liegt in nachhaltiger, langfristiger Veränderung, die Ausbildung, Integration und Wertschätzung von Pflegekräften in den Mittelpunkt stellt.

 

Sehen Sie Lösungen zur Verbesserung der Versorgung ohne zusätzliches Personal, z.B. durch Digitalisierung, Technik oder neue Wohnformen?

 

Mensen: Natürlich bieten Digitalisierung, technische Hilfsmittel oder neue Wohnformen Potenziale für Verbesserungen. Aber wir dürfen uns nicht darauf verlassen, dass sie unsere Grundprobleme lösen. Diese Maßnahmen können bestehende Prozesse ergänzen und optimieren, aber sie sind kein Ersatz für die grundlegende Reform des Systems. Wir müssen zunächst die Basis in Ordnung bringen – dann können diese „Goodies“ sinnvoll eingesetzt werden, um Pflege wirklich zukunftsfähig zu machen. 

 

Haben Sie schon innovative Ansätze dieser Art genutzt?

 

Mensen: Ja, das ist Teil unserer täglichen Arbeit und meiner Verantwortung als Führungskraft. Oft unterstützen uns dabei Förderprogramme, doch wir benötigen solche Mittel auch in der Regelversorgung und -finanzierung. Ein Beispiel: Wir arbeiten an einem Modellprojekt zur Gründung eines Bildungsinstituts, um ungelernte Kräfte berufsbegleitend zu qualifizieren. In einem anderen Projekt fördern wir multiprofessionelles Arbeiten – Pflegekräfte kooperieren mit Physiotherapeuten, Logopäden, Ergotherapeuten etc., um ganzheitliche Betreuung zu ermöglichen.Ein wichtiger Ansatz ist Prävention: Wir wollen Lebensqualität verbessern und nicht bloß Krankheitszustände akzeptieren. Hat ein Patient Schluckbeschwerden, reicht es nicht, nur auf Brei umzusteigen. Ein Fachexperte kann helfen, den Patienten so zu rehabilitieren, dass er wieder feste Nahrung essen kann – das macht das Leben lebenswerter.

 

Wie gravierend sind die Auswirkungen des Versorgungsmangels auf den Rest der Wirtschaft, weil Arbeitskräfte zuhause bleiben müssen, um Angehörige zu pflegen?

 

Mensen: Ich konzentriere mich darauf, meine Expertise im Pflegebereich einzubringen und überlasse solche wirtschaftlichen Bewertungen den entsprechenden Fachleuten. Es ist jedoch ein spannendes und relevantes Thema, das mich sehr interessiert – gerade weil es zeigt, wie eng Pflege und Wirtschaft miteinander verknüpft sind. Die Ergebnisse und Analysen aus diesem Bereich sind für uns alle von großem Wert.

 

Haben Sie Tipps für Unternehmen, wie sie mit dem Thema umgehen können?

 

Mensen: Ja, mein Tipp ist, das Thema so zu behandeln, wie alle Unternehmen mit pflegenden Angehörigen umgehen sollten: offen, unterstützend und mit einem Angebot an Hilfestellungen. Ein empathisches und flexibles Arbeitsumfeld, das Mitarbeitende bei ihrer Pflegeverantwortung unterstützt, kann einen großen Unterschied machen – sowohl für die Mitarbeitenden als auch für den Betrieb.

 

Gibt es sonst etwas, das wir ansprechen sollten?

 

Mensen: Ja, ich denke, es ist wichtig, über die Schwierigkeiten bei der Refinanzierung von Leistungen gegenüber Kassen sowie die Verhandlungen mit Landkreisen, Städten und Heimaufsichten zu sprechen. Oft entsteht ein Gefühl des Gegeneinanders, das wertvolle Zeit und Ressourcen verschwendet. Statt Schuldige zu suchen, sollten wir offen über die Zwänge aller Beteiligten sprechen und gemeinsam Lösungen entwickeln. Zuhören, Verständnis zeigen und gemeinsam handeln – das wäre ein wichtiger Schritt zur Veränderung.

 

In wirtschaftlich schwierigen Zeiten fragen wir uns, was Deutschland in Zukunft prägen kann. Ich sehe im Thema Gesundheit eine Chance: Wenn wir zusammenarbeiten und das System neu denken, könnte das Gesundheitswesen sogar über die Grenzen hinaus einen positiven Beitrag leisten. „Return of Social Invest“ ist dabei meine Vision – die Kraft der Zusammenarbeit für nachhaltige Veränderungen.